Das vergessene Lager

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Olaf Kurzhals
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Neue Recherchen zum Zivilarbeiterlager „Camp Neumühle“ im Stadtwald Wittenberg zwischen 1940-1945

Als im September 2020 der Förderverein zur Unterstützung des NABU-Zentrums im Stadtwald Wittenberg seine ehrenamtliche Arbeit aufnahm, ging es auch darum, dass Wanderwegenetz auszubauen. Bisher gab es nur einen kleinen und einen großen Naturlehrpfad, dessen hölzerne Beschilderung stark verschlissen ist. Ausgewiesene Wanderwege gab es bisher nicht.

Als langjähriger Läufer ist mir das profilierte Gelände seit den 1980-er Jahren bestens vertraut. Da ich auch den bisher wenig genutzten südwestlichen Teil des Stadtwaldes mit ins Wegenetz einbauen wollte, fiel in diesem Zusammenhang bei befreundeten älteren Zeitgenossen mehrfach der Begriff "Franzosenlager". Mit diesem Begriff konnte ich absolut nichts anfangen. Als heimatgeschichtlich interessierter Bürger wollte ich mehr darüber wissen und begann mit dem recherchieren.

Ein erster wertvoller Ansprechpartner war hierbei der Reinsdorfer Siegfried Rölke (Jahrgang 1933), den ich seit den 1980-er Jahren aus der Orientierungslauf- und Radfahrerszene gut kenne und schätze. Die Unterlagen von Siegfried waren meine Ausgangssituation. Seine Mutter arbeitete im Franzosenlager als „führende Küchenchefin“. Auf einem alten Foto ist seine Mutter (Zweite von rechts) mit Kolleginnen und Kollegen sowie französischen Arbeitern im Franzosenlager zu sehen.

Von da an recherchierte ich über den Heimatverein Wittenberg, den Geschichts- und Forschungsverein WASAG Reinsdorf und bekam von geschichtsinteressierten Wittenbergern Unterstützung.

Von der Archivarin des Heimatvereins Wittenberg, Elke Hurdelbrink, erhielt ich wertvolle Unterlagen. Diese basieren aus dem Jahre 2001 vom Heimatforscher Burkhart Richter (1923-2014). Dem Franzosenlager widmete sich der langjährige Vorsitzende des Heimatvereins in der Ausgabe des Wittenberger Heimatkalenders von 2001 ausführlich in Wort und Bild. Dabei konnte Herr Richter auf eine Sammlung des Franzosen Jean Caniot zurückgreifen, der vermutlich 1996 in einer Broschüre mit dem Titel „Zeugen einer Tragödie“ die Schilderungen und Tagebucheintragungen seiner französischen Kameraden zusammentrug und veröffentlichte.

Schnell stellte sich heraus, dass das „Camp Neumühle“, wie es die überwiegend französischen Bewohner bezeichneten, als Zivilarbeiterlager zu Wohnzwecken diente. Ende 1942 wurde zwischen dem Deutschen Reich und dem besetzten Frankreich festgelegt, dass junge Franzosen für kriegswichtige Arbeiten dienstverpflichtet wurden und zu Tausenden ins Deutsche Reich kamen. Reichsweit gab es über 30.000 Zivilarbeiterlager, bestehend aus einfachen Holzbaracken, überfüllten Gaststätten oder Fabrikhallen - so auch das Lager an der Neumühle, im westlichen Teil des heutigen Stadtwaldes gelegen.

Ende 1943 waren im „Camp Neumühle“, das inzwischen über 18 große und 10 kleine Baracken verfügte, etwa 1.000 männliche und 200 weibliche Bewohner/-innen untergebracht. Es gab eine Küche, eine medizinische Versorgung, eine Gaststätte und sogar eine Bunkeranlage. Die meisten der Insassen waren zum Dienst in der Westfälisch-Anhaltischen Sprengstoffwerke AG (WASAG) in Reinsdorf verpflichtet worden. Tägliche Fußmärsche zum Arbeitsort Reinsdorf (heute nordwestliche Lindenstraße) und zurück zum Lager zählte noch zu den ungefährlichsten Anforderungen an die Arbeiter. Die Arbeiten für die Beschäftigten und die Zwangsarbeiter waren sehr gefährlich. Sprengstoffunglücke mit Todesfolge, auch Sabotagen, waren keine Seltenheit.

In Höhe der heutigen nordwestlichen Einfahrt in den Reinsdorfer Weg gab es sogar eine eigene Bahnstation.

Am 27. April 1945 besetzte die Rote Armee das Lager Neumühle und forderte die Franzosen auf, das Lager zu verlassen. Diese kehrten nun auf unsicheren Wegen über Torgau, zurück über Elster, Kemberg und Düben, Delitzsch nach Halle, von wo aus in Güterwagen der Rücktransport nach Nordfrankreich gelang. Das Lager wurde nun von bis zu 800 russischen Soldaten bewohnt, die das Sprengstoffwerk bewachten und demontierten. Die Offiziere quartierten sich dagegen in den Wohnhäusern der jetzigen Roten Landstraße ein.

Nach Beendigung der Demontagearbeiten des ehemaligen WASAG-Werkes verließen die Soldaten und Offiziere das Lager Neumühle. Anscheinend gab es für das Lager keine weitere Verwendung mehr. Alles was an Baumaterialien, wie Fenstern, Türen, Balken und Wänden zu gebrauchen war, fand nun bei den umliegenden Bewohnern reißenden Absatz. Anfang der 1950-er Jahre wurde das Gelände mit Kiefern aufgeforstet.

Die Aufzeichnungen des Herrn Richter sind ausführlicher. Hinzu kommen die detaillierten Schilderungen der Franzosen aus dem Buch "Zeugen einer Tragödie" von Jean Caniot. Heute erinnern nur noch wenige von Moos befallene Fundamente, Erdwälle und der etwa 50 Meter lange Bunker im inzwischen bewaldeten Gebiet an eine sehr bewegende und traurige Zeit.

Eine kleine Erinnerungstafel im Gelände sollte meines Erachtens Aufgabe der weiteren Geschichtsaufarbeitung sein. Es wäre schön, wenn sich Vertreterinnen und Vertreter des Heimatvereins Wittenberg, des Geschichts- und Forschungsvereins WASAG und des Fördervereins Natur- und Erlebniszentrum Stadtwald zu einer gemeinsamen Aufarbeitung zusammenfinden könnten.

(Stand 24.08.2022)